|
PROTOPLASMA
spielt TAG - zur Geschichte eines Kultsongs
Wenn es für Protoplasma ein wirkliches Charakteristikum gibt, so
ist es zweigeteilt. Auf der einen
Seite festgelegte, wohldurcharrangierte Songs und Rockstücke in denen
alle Fertigkeiten der einzel-
nen Musiker dem gemeinsamen Thema des Songs angeglichen sind..... und
auf der anderen Seite
eine nicht einzudämmende Liebe zur Improvisation, zum Experiment
zum sich ausprobieren, zur
musikalischen Kommunikation untereinander...und natürlich auch mit
dem Publikum. In der Anfangs-
zeit hatte dieses Moment etwas mehr Anteil in der Aktivität der Band.
Man hatte nur wenige Songs
und musste sich mit nur einem Soloinstrument mitunter durch ein anderthalb
stündiges Programm
arbeiten.
Bei
all den Stücken die teilweise jam-artigen Charakter hatten, fiel
eins immer besonders auf: "Tag".
Ich habe diese Nummer bereits beim allerersten Konzert der Band beim
Rock-und Bluesfestival in
einer kleinen Landdisco gehört. "Tag" war damals eine
sehr einfache auf Sechsachteltakt basierende
Improvisation mit zweimaligem Wechsel auf F-Dur, C-Dur und A-Moll und
wieder D-Moll. Eine Gitarre
zupfte dabei dieses D-Moll mit einem kleinen e-f-e-Lick, während
die andere Gitarre sich in vorsich-
tigen psychedelischen Klängen, zum Teil mit geigenartigen Ansätzen
erging. Der Bassist spielte eine
sehr monotone Basslinie und der Schlagzeuger bediente minutenlang mit
Puschelstöcken die Becken,
bevor man zu einem gemeinsamen Takt überging.
Das
ganze steigerte sich in der Regel so, dass es einen Moment der Spannung
gab, an dem schließ-
lich in einem Schlagzeugsolo die aufgebaute Energie abgetobt werden
konnte, bevor "Tag" wieder im
monoton gezupften D-Moll abklang. Obwohl fast eine viertel Stunde lang,
war Tag stets ein echtes High-
light im Programm. Erst wurde abgerockt, dann kam dieses meditative
sich ins orgastische stei-
gernde Stück und danach die Zugaben.
Ab
1973 wurde "Tag" dank Enno Neyer´s 12-saitiger Gitarre
und Edgar´s verechoter Blockföte und einem
gesprochenen Text über Frieden, Träume, Hoffnung und Tot zu
einem eher mystischen Song, ohne je-
doch seine Wirkung zu verlieren. Mit der Orgel von Horst Nosowski erhielt
"Tag" sein erstes ganz großes
Finnish. Es wurde bei Konzerten seitens der Zuschauer etwa so gehandelt
wie "Solar Music" von "Grob-
schnitt", "Nam Nam" von "Kraan" oder "Phoenix"
von "Wishbone Ash", auch wenn sich Plasma damals
z. B. beim legendären Konzert im Kultclub Fehnhaus vor über
400 Zuschauern (der Club faste gerade 300!)
mitunter in bis zu vierzig minütigen Improvisationen fast zu verlieren
schien.
Nach
der Neubesetzung Ende 1976 verschwand "Tag" erst einmal in
der Versenkung. Die fast anderthalb
jährige Orientierung nutzte die Band zum Einstudieren von mehrstimmigen
Gitarrenmelodien und kompak-
ten Bass/Schlagzeugarrangements. Ab Mitte 1977 stand dann auch einmal
im Monat ein reiner Jam-Abend
an. Man wollte eigene Grenzen ausprobieren und versuchen sich im freien
Spiel in musikalischer Kommu-
nikation zu finden. Diese Jams haben sicherlich zu der recht großen
Virtuosität und zum unverkrampften Umgang der Band mit (musikalischen)Themen
und Stilelementen sehr beigetragen.
Bei
einer dieser (oft über drei Stunden dauernden) Jams klang in einer
ruhigen Phase die bis dahin nicht
gespielte D-Moll Phrase von Tag an und kam bei den folgenden Abenden
immer mal wieder zum tragen.
Stück für Stück wurde ab da an einer neuen Fassung von
"Tag" gebastelt, neue Passagen ausprobiert, mehrstimmige Gitarreneinlagen
eingefügt, ein paar wichtige festgelegte Tempiwechsel und Breaks
einge-
baut und schließlich war 1978 die erste Neufassung des Klassikers
auch live zu hören. Den Bolero-artigen
Charakter mit viel Raum für Improvisation hat "Tag" nie
verloren.
Der
Kultsong gewann im Laufe der Jahre zunehmend an Reife und hat in seinen
letzten Fassungen mit
einem Gesangsteil, ausgedehntem Bass/Percussion/Schlagzeuganteil und
Tonbandeinblendungen sowie
einer Diashow und Feuerspuckereinlagen vielleicht sogar seine ganze
vielschichtige Wirkung beim Publi-
kum noch mehr getroffen. Leider gibt es von Tag keine einzige Studioaufnahme.
Das Stück entstand (bis
auf die festgelegten Passagen) quasi immer wieder neu aus der Livesituation
mit dem jeweiligen Publikum.
Zwei kürzere Fassungen dieser musikalischen Odyssee sind live (allerdings
nur in mittelmäßiger Qualität)
aufgezeichnet worden. Ein solches Audiodokument findet sich nach digitaler
Restauration der Tonband-
aufnahme auf der Doppel-CD "just some more rockcity tapes"
wieder.
|
|
TANZ,
TAG & TRANCE - eine Tagebuchaufzeichnung
Wie das live spielen von "TAG" auch auf die Musiker wirken konnte
spiegelt eine Tagebuchaufzeich-
nung eines Mitglieds wieder.
Tanz
und Trance, das sind drei Momente, die sich auch aus einer Improvisation
entwickeln konnten.
Es gibt im Leben eines jeden Menschen diese "goldenen Momente".
Es sind Momente des Innehal-
tens, des Abgetrennt seins von dem alltäglichen Fluss der Gedanken
und gewohnten Gefühle, Mo-
mente denen eine Angst vorausgeht, weil man sich mit allen Unzulänglichkeiten
auf einmal erkennt
und annimmt und in Folge auch Momente der Glückseeligkeit, Leere
und Dankbarkeit gegenüber der
ganzen Schöpfung, ähnlich dieses Zustandes, den man nach einem
sehr tiefen Orgasmus erleben
kann.
Dass
dieser Zustand sich auch beim Live-Musik machen einstellen kann, war
mir bis dato unbekannt.
Aber eines schönen Open-Air.Festival-Abends stellte er sich ganz
nebenbei ein. Wir spielten in einen
Waldgelände vor ca. 600 Leuten, hatten schon die 2 Drittel unseres
Programms bei bester Laune hinter
uns gebracht und starteten "Tag", jenes unergründliche
aus endloser D-Moll-Improvisation sich entwickeln-
de halbstündige Stück, an dessen Höhepunkt ein nichts
auslassendes Bass-/Schlagzeug-/ Percussion-
solo steht. Zu Anfang des Stücks ging die Sonne blutrot hinter
den Baumkronen unter, im Zuschauer-
bereich brannten die ersten kleinen Lagerfeuer. Der Sound der Anlage
war erstklassig, überhaupt stimmte
alles. Die Band schien wie im Gleichtakt zu spielen, selbst unser Mixer,
der bei dem Song immer an
den falschen Stellen irgendwelchen Effektzauber entfachte, war drin.
Und "TAG" wurde das schönste
"TAG", an das ich mich bis dato erinnern konnte. Wir hatten
weder was geraucht, noch Alkohol getrunken,
aber auf einmal war es, als würden nicht mehr wir, sondern ein
Außenstehender in unserer Gestalt die
Regie übernehmen.
Tag
entfaltete sich vorsichtig, die einzelnen Gitarrenakkorde und -töne
schienen zu leuchten, die mehr-
stimmigen Melodien kamen wunderbar elegant wie nie, ich spielte meine
Basslinien und schaute mir
gleichzeitig und den anderen zu, es entwickelte sich etwas, dass zu
einem echten neuen Erlebnis wurde.
Noch nie habe ich mit solcher Leichtigkeit und Energie ein solches Bassolo
hingelegt, noch nie so syn-
chron mit dem Drummer und Percussionisten so unisono zusammen gespielt
und trotzdem mich und die
anderen gleichzeitig aus der Sicht des Publikums gesehen und gespürt.
Als
das Stück nach fast einer halben Stunde zuende war, lächelten
alle, waren sehr tief zufrieden und
sagten fast nichts. Nach den Zugaben blieb diese Stimmung und wir waren
vorsichtig genug, sie nicht
zu zerreden. Monate später sprachen wir darüber. Jeder hatte
etwas anderes gesehen...doch alle hatten
diese leuchtende Stille bei totaler Aktivität erlebt...diese Distanz
und absolute Nähe....Das war das, was
ursprünglich mit diesem Stück ausgesagt werden sollte...nun
hatte das Stück uns dieses Moment ge-
schenkt. Es sollte leider nie wieder so werden.
|