PROTOPLASMA spielt TAG

Poster: PROTOPLASMA spielt TAG, K.-H.G. c) 1978, click here for larger picture


























 

 

 

 

 

 

 

PROTOPLASMA spielt TAG - zur Geschichte eines Kultsongs
Wenn es für Protoplasma ein wirkliches Charakteristikum gibt, so ist es zweigeteilt. Auf der einen
Seite festgelegte, wohldurcharrangierte Songs und Rockstücke in denen alle Fertigkeiten der einzel-
nen Musiker dem gemeinsamen Thema des Songs angeglichen sind..... und auf der anderen Seite
eine nicht einzudämmende Liebe zur Improvisation, zum Experiment zum sich ausprobieren, zur
musikalischen Kommunikation untereinander...und natürlich auch mit dem Publikum. In der Anfangs-
zeit hatte dieses Moment etwas mehr Anteil in der Aktivität der Band. Man hatte nur wenige Songs
und musste sich mit nur einem Soloinstrument mitunter durch ein anderthalb stündiges Programm
arbeiten.

Bei all den Stücken die teilweise jam-artigen Charakter hatten, fiel eins immer besonders auf: "Tag".
Ich habe diese Nummer bereits beim allerersten Konzert der Band beim Rock-und Bluesfestival in
einer kleinen Landdisco gehört. "Tag" war damals eine sehr einfache auf Sechsachteltakt basierende
Improvisation mit zweimaligem Wechsel auf F-Dur, C-Dur und A-Moll und wieder D-Moll. Eine Gitarre
zupfte dabei dieses D-Moll mit einem kleinen e-f-e-Lick, während die andere Gitarre sich in vorsich-
tigen psychedelischen Klängen, zum Teil mit geigenartigen Ansätzen erging. Der Bassist spielte eine
sehr monotone Basslinie und der Schlagzeuger bediente minutenlang mit Puschelstöcken die Becken,
bevor man zu einem gemeinsamen Takt überging.

Das ganze steigerte sich in der Regel so, dass es einen Moment der Spannung gab, an dem schließ-
lich in einem Schlagzeugsolo die aufgebaute Energie abgetobt werden konnte, bevor "Tag" wieder im
monoton gezupften D-Moll abklang. Obwohl fast eine viertel Stunde lang, war Tag stets ein echtes High-
light im Programm. Erst wurde abgerockt, dann kam dieses meditative sich ins orgastische stei-
gernde Stück und danach die Zugaben.

Ab 1973 wurde "Tag" dank Enno Neyer´s 12-saitiger Gitarre und Edgar´s verechoter Blockföte und einem
gesprochenen Text über Frieden, Träume, Hoffnung und Tot zu einem eher mystischen Song, ohne je-
doch seine Wirkung zu verlieren. Mit der Orgel von Horst Nosowski erhielt "Tag" sein erstes ganz großes
Finnish. Es wurde bei Konzerten seitens der Zuschauer etwa so gehandelt wie "Solar Music" von "Grob-
schnitt", "Nam Nam" von "Kraan" oder "Phoenix" von "Wishbone Ash", auch wenn sich Plasma damals
z. B. beim legendären Konzert im Kultclub Fehnhaus vor über 400 Zuschauern (der Club faste gerade 300!)
mitunter in bis zu vierzig minütigen Improvisationen fast zu verlieren schien.

Nach der Neubesetzung Ende 1976 verschwand "Tag" erst einmal in der Versenkung. Die fast anderthalb
jährige Orientierung nutzte die Band zum Einstudieren von mehrstimmigen Gitarrenmelodien und kompak-
ten Bass/Schlagzeugarrangements. Ab Mitte 1977 stand dann auch einmal im Monat ein reiner Jam-Abend
an. Man wollte eigene Grenzen ausprobieren und versuchen sich im freien Spiel in musikalischer Kommu-
nikation zu finden. Diese Jams haben sicherlich zu der recht großen Virtuosität und zum unverkrampften Umgang der Band mit (musikalischen)Themen und Stilelementen sehr beigetragen.

Bei einer dieser (oft über drei Stunden dauernden) Jams klang in einer ruhigen Phase die bis dahin nicht
gespielte D-Moll Phrase von Tag an und kam bei den folgenden Abenden immer mal wieder zum tragen.
Stück für Stück wurde ab da an einer neuen Fassung von "Tag" gebastelt, neue Passagen ausprobiert, mehrstimmige Gitarreneinlagen eingefügt, ein paar wichtige festgelegte Tempiwechsel und Breaks einge-
baut und schließlich war 1978 die erste Neufassung des Klassikers auch live zu hören. Den Bolero-artigen
Charakter mit viel Raum für Improvisation hat "Tag" nie verloren.

Der Kultsong gewann im Laufe der Jahre zunehmend an Reife und hat in seinen letzten Fassungen mit
einem Gesangsteil, ausgedehntem Bass/Percussion/Schlagzeuganteil und Tonbandeinblendungen sowie
einer Diashow und Feuerspuckereinlagen vielleicht sogar seine ganze vielschichtige Wirkung beim Publi-
kum noch mehr getroffen. Leider gibt es von Tag keine einzige Studioaufnahme. Das Stück entstand (bis
auf die festgelegten Passagen) quasi immer wieder neu aus der Livesituation mit dem jeweiligen Publikum.
Zwei kürzere Fassungen dieser musikalischen Odyssee sind live (allerdings nur in mittelmäßiger Qualität)
aufgezeichnet worden. Ein solches Audiodokument findet sich nach digitaler Restauration der Tonband-
aufnahme auf der Doppel-CD "just some more rockcity tapes" wieder.

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TANZ, TAG & TRANCE - eine Tagebuchaufzeichnung
Wie das live spielen von "TAG" auch auf die Musiker wirken konnte spiegelt eine Tagebuchaufzeich-
nung eines Mitglieds wieder.

Tanz und Trance, das sind drei Momente, die sich auch aus einer Improvisation entwickeln konnten.
Es gibt im Leben eines jeden Menschen diese "goldenen Momente". Es sind Momente des Innehal-
tens, des Abgetrennt seins von dem alltäglichen Fluss der Gedanken und gewohnten Gefühle, Mo-
mente denen eine Angst vorausgeht, weil man sich mit allen Unzulänglichkeiten auf einmal erkennt
und annimmt und in Folge auch Momente der Glückseeligkeit, Leere und Dankbarkeit gegenüber der
ganzen Schöpfung, ähnlich dieses Zustandes, den man nach einem sehr tiefen Orgasmus erleben
kann.

Dass dieser Zustand sich auch beim Live-Musik machen einstellen kann, war mir bis dato unbekannt.
Aber eines schönen Open-Air.Festival-Abends stellte er sich ganz nebenbei ein. Wir spielten in einen
Waldgelände vor ca. 600 Leuten, hatten schon die 2 Drittel unseres Programms bei bester Laune hinter
uns gebracht und starteten "Tag", jenes unergründliche aus endloser D-Moll-Improvisation sich entwickeln-
de halbstündige Stück, an dessen Höhepunkt ein nichts auslassendes Bass-/Schlagzeug-/ Percussion-
solo steht. Zu Anfang des Stücks ging die Sonne blutrot hinter den Baumkronen unter, im Zuschauer-
bereich brannten die ersten kleinen Lagerfeuer. Der Sound der Anlage war erstklassig, überhaupt stimmte
alles. Die Band schien wie im Gleichtakt zu spielen, selbst unser Mixer, der bei dem Song immer an
den falschen Stellen irgendwelchen Effektzauber entfachte, war drin. Und "TAG" wurde das schönste
"TAG", an das ich mich bis dato erinnern konnte. Wir hatten weder was geraucht, noch Alkohol getrunken,
aber auf einmal war es, als würden nicht mehr wir, sondern ein Außenstehender in unserer Gestalt die
Regie übernehmen.

Tag entfaltete sich vorsichtig, die einzelnen Gitarrenakkorde und -töne schienen zu leuchten, die mehr-
stimmigen Melodien kamen wunderbar elegant wie nie, ich spielte meine Basslinien und schaute mir
gleichzeitig und den anderen zu, es entwickelte sich etwas, dass zu einem echten neuen Erlebnis wurde.
Noch nie habe ich mit solcher Leichtigkeit und Energie ein solches Bassolo hingelegt, noch nie so syn-
chron mit dem Drummer und Percussionisten so unisono zusammen gespielt und trotzdem mich und die
anderen gleichzeitig aus der Sicht des Publikums gesehen und gespürt.

Als das Stück nach fast einer halben Stunde zuende war, lächelten alle, waren sehr tief zufrieden und
sagten fast nichts. Nach den Zugaben blieb diese Stimmung und wir waren vorsichtig genug, sie nicht
zu zerreden. Monate später sprachen wir darüber. Jeder hatte etwas anderes gesehen...doch alle hatten
diese leuchtende Stille bei totaler Aktivität erlebt...diese Distanz und absolute Nähe....Das war das, was
ursprünglich mit diesem Stück ausgesagt werden sollte...nun hatte das Stück uns dieses Moment ge-
schenkt. Es sollte leider nie wieder so werden.

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